Ezgi Kılınçaslan: „Der Teufelskreis“ (2020)

Sparte

Foto-Arbeit

Datum

Ort

Kulturakademie Tarabya

Im Rahmen ihres Stipendiums von Februar bis Juni 2020 entwickelte Ezgi Kılınçaslan ihr Projekt „Teufelskreis“. Eine Arbeit, die den Bezugsverlust des Menschen zur Natur behandelt, aber auch eine direkte Reaktion auf die Pandemie und ihre Auswirkungen ist – mit den Mitteln von Fotografie und Video.

Asuman Kırlangıç über Ezgi Kılınçaslans Projekt „Der Teufelskreis“:

„Die Natur, die alles Leben möglich macht, befindet sich in zügigem Umbruch. Der Mensch hat sich Städte als modernen Lebensraum erbaut, in denen die Natur keinen Platz mehr hat. Vielleicht auch deshalb ist er des Umbruchs, der Transformation erst spät gewahr geworden. So als hätte er, hinter der Grenze verbleibend, die er zwischen sich und der Natur errichtet hat, vergessen, dass er in existentieller Abhängigkeit zu ihr steht.

Im 19. Jahrhundert war der Mensch bezaubert, fühlte sich klitzeklein in Angesicht der Erhabenheit und Unendlichkeit der Natur; im 21. Jahrhundert lüftet er ihre Geheimnisse, eines nach dem anderen, und bringt sich neu in Stellung. Heute wird die  Natur vom Menschen dominiert. Trunken von der eigenen Macht, bemerkt der Mensch nicht den Teufelskreis, in dem er sich befindet und der die Natur und alles Leben in ihr Schritt für Schritt vernichtet.

Eine der weitverbreitetsten Diskussionen unserer Zeit ist die über das Anthropozän. Es ist unwichtig, wann das Zeitalter begonnen hat, entscheidend sind die Symptome: der Mensch muss sich im Angesicht der Natur nicht verändern. Sie ist nunmehr die einzigartige treibende Kraft der Veränderung. Der Mensch hat die Natur dominiert und sich in seiner Machttrunkenheit von der Natur und allen mit ihr verbundenen Lebewesen entkoppelt. Er ist einsam geworden. Der melancholische Seelenzustand infolge dieses Verlustes geht einher mit der das Weltgeschehen bestimmenden Pandemie und zwingt den Menschen zu einem von äußeren Faktoren isolierten Leben. Melancholie, Pandemie und Isolierung haben auch seine einzig verbleibende Verbindung mit der eigenen Spezies unterbunden. Der Zustand absoluter Einsamkeit, in dem er sich befindet, ist furchteinflößend, seine Existenz durch seine Einsamkeit bedroht. Er ist unzufrieden mit diesem auf die Schnelle entstandenen Lebensentwurf, denn auch die ihm vertrauten Bindungen, die ihm ein Gefühl von Sicherheit gegeben haben, sind im Umbruch, haben sich verändert. Er ist auf der Suche nach einem anderen Lebensentwurf. Seine Beziehungen verlieren ihre Natürlichkeit, nichtsdestotrotz bleibt es ein Bedürfnis, sich in Bindungen zu geben.

Der Mensch ist ein ausschließlich seine eigene Existenz bewunderndes narzisstisches Individuum. Aber sogar Narzissten brauchen den Anderen. Die Bewunderung, Liebe und Zuneigung, von der er abhängt, liegt im Anderen. Aber das Andere ist längst dem Untergang geweiht. Die Liebe, derer er bedarf, ist nunmehr aus Plastik. Plastik ist sehr hartnäckig. Es verschwindet nicht, es transformiert sich nur. Beschützend und verheerend zugleich, indessen menschengemacht. Nun kann der Mensch Gott spielen.

Durch die Beschäftigung mit den durch die gegenwärtigen Entwicklungen entstandenen Einschränkungen unseres Alltagslebens, bringt uns Ezgi Kılınçaslan mit ihrer Arbeit „Der Teufelskreis“ dazu, ein viel größeres Dilemma der Menschheit zu hinterfragen. Die ästhetische Kraft der künstlerischen Schöpfung ist gleichzeitig auch die Selbstvergöttlichung des Menschen. Sein Rauschzustand hat ihn dazu verleitet, seinen ureigenen Daseinsgegenstand zu verlieren. Die Natur ist virtuell, Beziehungen sind virtuell, das Andere ist virtuell. Diese absolute Einsamkeit bringt den Mangel an Zuneigung und Liebe verstärkt zum Vorschein. Der menschliche Austausch ist noch immer das Stärkste der Bedürfnisse. Doch was bedeutet „menschlich“? Schlussendlich genügen uns unsere selbstgeschaffenen künstlichen Beziehungen und Berührungspunkte und können uns dazu verleiten, jenes Desaster auszuklammern, das wir selbst hervorgerufen haben.“

 

Fotos: Mehmet Tütüncü