Studio Bosporus – Kuratorisches Statement
Tarabya, zur Zeit des Osmanischen Reichs erst Pharmazia, dann Therapia genannt, wird nicht nur von Seiten der Stipendiat:innen der 2011 gegründeten Kulturakademie als quasi-therapeutischer Aufenthaltsort genutzt, sondern ist vielmehr Patient seiner selbst. Das 18 Hektar große Anwesen ist kondensierte deutsch-osmanische Geschichte und steht wie kein anderer Ort in Istanbul für die verwobenen Verbindungslinien dieser vergangenen Imperien. Ein solches historisches Gewicht lässt sich nur schwer ignorieren – für viele der 106 Stipendiat:innen aus den Sparten bildende Kunst, Musik, darstellende Kunst, Film, Literatur und Kulturtheorie wurde und wird der Ort zum Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzungen. Es ist ein Geben und Nehmen in der Kulturakademie, jede:r lernt von jeder/m, in einer Stadt und einem Land, das die Falltüren seiner Geschichte immer schneller zudeckt. Die Kulturakademie ist ein geschützter Raum für individuelle künstlerische Arbeit, Dialog und Meinungsfreiheit – für Künstler:innen aus Deutschland und der Türkei gleichermaßen. Genau diese Kombination von Abgeschiedenheit des Ortes, Vernetzung mit der türkischen Szene und Ergebnisoffenheit der Stipendien ergibt einen idealen Ausgangspunkt für Perspektivwechsel und künstlerisches Schaffen.
Wir feiern den 10. Geburtstag der Kulturakademie Tarabya an 22 Spielstätten. Festivalzentrum ist der Kunstraum Kreuzberg/Bethanien. Passender könnte der Austragungsort mit seiner Historie nicht sein. Denn es gibt wohl kaum einen Stadtteil, an dem sich die 60-jährige Geschichte des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens besser ablesen lässt als Berlin-Kreuzberg. Dass aber die Verbindungslinien der beiden Länder deutlich älter sind als die „Gastarbeitergeschichte“ ist nur selten Teil des Kanons.
Die künstlerischen wie diskursiven Beiträge der Festivalteilnehmer:innen setzen sich aus unterschiedlichsten Perspektiven mit lokalen Kontexten, globalen Herausforderungen und aktuellen urbanen Tendenzen auseinander. So bilden die deutsch-türkischen Beziehungen zur Zeit des Ersten Weltkriegs einen wichtigen Ausgangspunkt. Weiterer Ankerpunkt ist der 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens. Dieser Migrationsprozess hat beide Länder geprägt und verändert.
Arbeiten zu dringlichen Themen wie der Klimakrise und den städtischen Transformationsprozessen zeigen ferner, wie sich globale Fragen in beiden Ländern auswirken. Die Türkei und insbesondere ihr ökonomisches Zugpferd Istanbul sind geprägt durch neoliberale stadtplanerische Projekte der letzten 20 Jahre: der umstrittene neue Flughafen, dem hunderttausende Bäume und zahlreiche Dörfer zum Opfer fielen, die Hochhäuser und Gated Communities, die zu verstärkter Segregation führen.
Die Werke, die sich mit Frauenrechten, LGBTQ und Körperpolitik befassen, rücken gesellschaftliche Missstände in den Fokus. Allein im Jahr 2020 sind 404 Frauen in der Türkei ermordet worden. Die Gewalt gegen queere Menschen im öffentlichen Raum nimmt zu, seit Jahren ist die Pride-Parade verboten. 2021 ist die Türkei aus der Istanbul-Konvention ausgetreten, die Gewalt gegen Frauen europaweit verhindern soll.
Darüber hinaus gibt es künstlerische Arbeiten, die sich mit dem Ort und dem Zweck von Residenzprogrammen selbst auseinandersetzen und die Frage erörtern, wie man an einer durch eine Mauer von der Nachbarschaft und der Stadt abgetrennten Institution Kontakte zu der Kunstszene vor Ort aufbauen und pflegen kann.
Schon die Stipendiat*innen der ersten Stunde machten das postmigrantische Profil deutlich, besonders im Bereich Theater. Nicht zuletzt ist es eine der Leistungen der Kulturakademie Tarabya, dass diese Künstler:innen mit neuen Themen, Stoffen und Formaten einem breiten Publikum in der Bundesrepublik bekannt geworden sind.
Der Schwerpunkt des Literatur- und Diskursprogramms liegt auf der Gegenwart der deutschen Gesellschaft. 2021 ist sie jüdisch, postmigrantisch, queer, Schwarz und so vieles mehr. Das ist nicht zuletzt Ergebnis der Migration der letzten Jahrzehnte, die Kultur und Zivilgesellschaft maßgeblich verändert hat. Diese neue Realität erzeugt auch den Bedarf an einer veränderten Perspektive auf Geschichte und Gegenwart der deutschen Gesellschaft. Und Literatur und Essayistik sind Praxen, die diese Komplexität der Geschichte und Geschichten aller hier lebenden Menschen auf besondere Weise abbilden können.
Die Suche nach Netzwerken, Zugehörigkeiten, nach globalen Themen, Geschichte und Geschichten wird auch in Zukunft das Thema der Künstler:innen aus Deutschland und der Türkei sein. Die Kulturakademie Tarabya wird weiterhin ihren Teil dazu beitragen.